Remote First

Remote-Arbeit ist kein neues Konzept. Durch Covid-19 erfährt das Thema gerade enorme Aufmerksamkeit.

Twitter, Coinbase, Shopify, Square und Facebook haben die Corona-Krise zum Anlass genommen, remote-first zu werden. In einer Umfrage von Gartner im April 2020 gaben 74% aller CFOs an, dass mindestens 5% ihrer Mitarbeiter dauerhaft remote arbeiten würde.  Was diese Bewegung bedeutet, möchte ich in den folgenden Zeilen erläutern

Level der Remote Arbeit

Matt Mullenweg hat mit Automattic (u.a. bekannt für Wordpress und WooCommerce) eine komplett verteilte Firma mit 1.100 Mitarbeitern in 62 Ländern aufgebaut. Basierend auf seinen Erfahrungen hat eine Pyramide der verteilten Arbeit entwickelt.

Level 0

Bauarbeiter, Masseure, Reinigungskräfte, Wachpersonal und weitere Berufe lassen sich nur vor Ort ausüben. Hier brauchen wir nicht großartig über Remote First nachdenken.

Einige Berufe, wie zB Arzt, sind aktuell noch ortsgebunden, könnten aber durch technologischen Fortschritt teilweise remote werden. Telemedizin ist zum Beispiel für viele Erstdiagnosen und Check-ins absolut ausreichend. Beispiele für diesen Trend sind die Krankschreibung via WhatsApp bei AU Schein und die Möglichkeit verschreibungspflichtige Medikamente bei Fernarzt über einen Fragebogen verschrieben und geliefert zu bekommen. 

Level 1

Das Unternehmen unternimmt keinen Versuch remot-friendly zu sein. Gibt es mehrere Büros, führen Büro-übergreifende Meetings zu Reisen. Das Home Office wird teilweise gestattet, ist aber nicht die Norm. Wer immer alle Informationen mitbekommen und Karriere machen möchte, muss im Büro anwesend sein.

Level 2

Die Organisation ist verteilt – entweder auf mehre Standorte oder mit vielen Mitarbeitern, die von zu Hause oder von Unterwegs arbeiten. Allerdings wird die Büro-Experience im Internet nachgebaut. Fast sämtliche Kommunikation erfolgt synchron. Was vorher eine Meeting war, ist jetzt ein Video-Call. Der Arbeitstag ist voller Unterbrechungen.

Dass du in einer Level 2 Organisation arbeitest erkennst du daran, dass die Zusammenarbeit mit Kollegen in anderen Zeitzonen schlechter klappt als mit denen in der gleichen Zeitzone.

Level 3

Die Firma ist remot-first. Ein Großteil der Kommunikation erfolgt schriftlich. Fast alle Dokumente sind für alle Mitarbeiter durchsuchbar. Gutes und klares Schreiben wird wertgeschätzt und gefördert. Es gibt ein internes Wiki als zentrale Wissensplattform; zum Beispiel via Confluence.

Level 4

Die Kommunikation erfolgt wirklich asynchron. Entscheidungen können dezentral und ohne Facetime getroffen werden. Alle Mitarbeiter werden anhand ihres Outputs bewertet.

Meetings sind selten und haben immer eine klare Agenda. In mindestens 50% aller Meetings wird gemeinsam an einem kollaborativen Dokument gearbeitet und nicht nur diskutiert.

Level 5

Ein Unternehmen, dass Level 4 nicht nur erreicht hat sondern wirklich lebt, kann dank Mitarbeitern auf der ganzen Welt 24/7 aktiv sein und ist produktiver als non-remote Unternehmen.

Wie werde ich remote-first?

Das notwendige Mindset ist denke ich der Remote-First-Pyramide gut beschrieben. Ganz wichtig sind die folgenden Punkte:

  • Meetings gut strukturieren und immer mit einer klaren Agenda starten. Muten wenn man nicht spricht.

  • Chat als asynchrones Medium betrachten. Erwarte nicht, dass Kollegen sofort antworten und fühl dich selbst nicht genötigt sofort zu antworten. Dies ist besonders wichtig bei Jobs, die lange Konzentrationsphasen erfordern; und wenn in verschiedenen Zeitzonen gearbeitet wird.

  • Öffentliche Dokumentare und Kommunikation. Sowohl MS Teams, als auch Slack bieten die Möglichkeit von Threads (Diskussionssträngen). Damit können zwei Personen eine Diskussion in einem öffentlichen Kanal führen ohne alle anderen Kanal-Teilnehmer groß abzulenken. Der Vorteil gegenüber einem privaten 1:1-Chat ist, dass die gesamte Konversation durchsuchbar (also später auffindbar) ist und weitere Teilnehmer sehr einfach einsteigen können. Da das Mithören von Gesprächen, der Chat am Wasserspender und die Raucherpause wegfallen, ist diese Form der Kommunikation unglaublich wichtig für das Teilen von Wissen. Daher sollten auch alle Teams, Kanäle und Dokumente so öffentlich wie möglich sein. Öffentlich bedeutet hier natürlich immer öffentlich innerhalb der Organisation.

Software

Software sollte kollaborativ sein und alle Daten immer auf einem Server (oder direkt in der Cloud) speichern – nie lokal.

Office 365 von Microsoft ist eine super Basis für remote-freundliches Arbeiten. Alle Daten sind in der Cloud. Jede Anwendung lässt sich im Browser benutzen. Der Wechsel vom Browser zur lokal installierten App klappt reibungslos. Eine Alternative ist die G Suite.

Zusätzlich ist ein Passwort-Manager zu empfehlen. Andernfalls werden Passwörter, die früher mündlich oder via Papier verteilt wurden in E-Mails und Slack-Nachrichten gepackt.

Natürlich lassen sich einzelne Office 365 Apps auch ersetzen.

  • Slack und Zoom statt Teams
  • Trello statt Planner
  • Dropbox Paper statt Word und Excel
  • Evernote statt OneNote
  • Basecamp fürs Projekt Management
  • Calendly statt FindTime 

Hardware

Im Home Office gelten bezüglich Schreibtisch, Stuhl, Monitor, Sitzposition und Ergonomie die gleichen Regeln wie im Büro.

Wichtige Ergänzungen sind eine gute Webcam (zB Logitech Brio) und ein gutes Headset oder Mikrofon und Lautsprecher. Hier ist quasi alles von Jabra und Sennheister empfehlenswert.

Ich finde außerdem ein Ringlicht nützlich, da die wenigstens Privatwohnungen so gut ausgeleuchtet sind wie ein Büro.

Sicherheit

Das Thema IT-Sicherheit wird oft solange ignoriert wie Arbeit im Hoemoffice nur eine Ausnahme ist. Laptops sind verschlüsselt und es soll ein VPN genutzt werden – das wars. Wenn jedoch alle Mitarbeiter von zu Hause arbeiten, gibt es eine ganze Reihe von Themen, die IT-Sicherheitsexperten Kopfschmerzen bereiten dürften:


  • Wie ist der physische Zugriff auf Arbeitslaptop, Router, Tastatur, usw. geregelt? Ist das Homeoffice ein extra Raum, der immer abgeschlossen wird?

  • Haben weitere Personen (Partner, Kinder, Haushaltshilfen) physischen Zugriff?

  • Wie oft wird das W-Lan-Passwort geändert?

  • Ist das W-Lan angemessen verschlüsselt?

  • Wird die Firmware des Routers regelmäßig auf den neusten Stand gebracht?

  • Ist der Router immer noch über das Standard-Passwort erreichbar?

  • Gibt es ein getrenntes Netzwerk für den Smart-Fridge, der seit 2015 kein Software-Update hate, und für die nur 1 Euro teuren Überwachungskameras, die über Wish geordert wurden?


Es gibt Hackergruppen, sie sich darauf spezialisiert haben, Führungskräfte zu hacken, wenn sie in Hotels absteigen. Wenn ab sofort jeder im Homeoffice ist, bieten sich hier völlig neue Möglichkeiten!

Recruiting

Dinge wie das Team beim Lunch kennenzulernen oder einen Tag auf dem Firmen-Campus zu verbringen und 4 Interviews hintereinander zu führen, gehören bei Remote-Arbeit der Vergangenheit an. Die folgenden Maßnahmen bieten sich an um darauf zu reagieren.

Eine gute Software für Bewerbermanagement. Eine absolute Empfehlung in diesem Bereich ist Recruitee. Jede offene Stelle ist ein Kanbanboard mit Stages wie Beworben, Lebenslauf Check, Phone Screening, Interview 1, Interview 2, Culture-Fit Interview und Angebot. Jeder Bewerber ist eine Karte und wandert durch diese Stages – natürlich mit viel Automatisierung und Kommentaren aller beteiligter Mitarbeiter. Statt Vor-Ort-Terminen buchen sich Kandidaten – nach Freigabe durch HR oder den Hiring Manager – offene Slots für Video-Interviews. 

Natürlich könnte man sich das auch mit Airtable plus Zoom plus Calendly nachbauen – siehe mein Artikel über No-Code. Entscheidend ist es, Prozesse und Werkzeuge zu haben, die alle Informationen zu Bewerbern an einem Ort bündeln und asynchrone Kommunikation, sowie dezentrale Entscheidungen zulassen. 

Was ebenfalls helfen kann, sind ausführlichere Stellenbeschreibungen, sowie eine sehr gute Über uns-Sektion auf der Website. Wenn Kandidaten kein Büro besuchen können um den Vibe eines Unternehmens zu spüren, ist es wichtig, diesen an anderer Stelle transparent und ehrlich zu vermitteln.

Remote Gehälter

Ein spannendes Thema bei verteilten Unternehmen sind Gehälter. Grundsätzlich gibt es vier Modelle.

Global fixe Gehälter

Wer eine bestimmte Rolle mit einem bestimmten Erfahrungslevel hat, verdient das gleiche – überall auf der Welt.

Basecamp ermittelt das Top 10% Gehalt für San Francisco und zahlt dies an alle Mitarbeiter in der entsprechenden Rolle. Obwohl kein einziger Mitarbeiter in San Francisco lebt! Es erfolgt keinerlei lokale Anpassung

Lebenshaltungskosten-Multiplikator

Jede Position hat für jedes Karriere-Level ein fixes Gehalt. Dieses wird mit einem Multiplikator an die Lebenshaltungskosten des jeweiligen Wohnortes angepasst.


Buffer nimmt für jeden Rolle ein mittleres Gehalt in San Francisco und multipliziert dies mit einem Lebenshaltungskosten-Multiplikator, der zwischen 0.75 und 1 liegt. So bekommt CEO Joel Gascoigne mit einem Basis-Gehalt von USD 330.000 und einem Multiplikator von 0.85 auf ein Jahresgehalt von USD 280.500. Würde er nach San Francisco ziehen, bekäme er USD 330.000.

Lokale Gehälter

Jede Position wird nach lokalen Standards am Wohnort der Mitarbeiter vergütet.


GitLab geht so vor.

Gehaltsintransparenz

Die meisten Firmen handhaben es auch in remote-first Zeiten wie bisher. Gehälter werden individuell verhandelt und sind für Arbeitnehmer so intransparent wie möglich. 

Sozioökonomische Konsequenzen

An den oben aufgelisteten Modellen lässt sich schnell erkennen, dass Arbeitnehmer unter Umständen mit einer Gehaltsreduktion zu rechnen haben, wenn sie umziehen. Dies war bisher kein gesellschaftlich relevantes Thema. Doch mit dem massiven Shift von Büros zu Remote-freundlichkeit, insbesondere bei Technologie-Firmen im Silicon Valley, wird dieser Faktor auf einmal relevant.

Bisher hat die Ansiedlung von erfolgreichen Firmen dazu geführt, dass viele gutverdienende Menschen an einen Ort ziehen. Dadurch wird eine Stadt teuer, die Gutverdiener können sich diese Lebenskosten leisten. Klassische Beispiele sind New York (Wall Street) und San Francisco (Technologie-Firmen). Aber wird das auch in Zukunft so sein?

Man stelle sich vor, 1.000 GAFA-Programmierer behalten ihre Jobs, ziehen aber von San Francisco in Kalifornien nach Huntsville in Alabama um dort von ihren Homeoffice aus zu arbeiten.

San Francisco hat einen Cost of Living Index Wert von 91 und einen Mietkosten-Wert von 114. Macht insgesamt einen Wert von 102 und ist somit die teuerste Stadt in den USA! Hinzu kommt, dass Kalifornien mit 13% die höchste Einkommensteuer in den USA erhebt.

Huntsville ist mit einem Gesamtwert von 46 (61 für Cost of Living und 29 für Mietkosten) deutlich günstiger. Außerdem erhebt Alabama mit 5% eine deutliche niedrigere Einkommenssteuer.

Ohne Gehaltsanpassung würde sich die lokale Kaufkraft der GAFA-Entwickler mit dem Umzug mehr als verdoppeln!

Dies hat nicht nur Konsequenzen für die Mitarbeiter. Auch Stadt und Bundesstaat sind betroffen.

Zunächst einmal fehlen dem Staat Kalifornien und der Stadt San Francisco Steuereinnahmen. Außerdem sinken Mieten und Preise von Immobilien, da die Nachfrage nach Wohnraum sinkt.

Umgekehrt dürfen sich Huntsville und Alabama über mehr Steuereinnahmen freuen, während die bisherigen Bewohner von Huntsville sich an steigenden Immobilienpreisen und Mietkosten gewöhnen müssen.

Wenn es für eine Stadt wie Huntsville nicht mehr notwendig ist, dass Google oder Apple ihr Headquarter in der Nähe bauen um viele Mitarbeiter dieser Firmen anzuziehen, bieten sich viele neue Möglichkeiten für Städte um Gutverdiener anzuziehen. Ich vermute, dass das Thema Stadt-Marketing in den nächsten 10 Jahren massiv an Relevanz dazugewinnen wird.

Umgekehrt könnten Städten wie San Jose oder San Francisco in den Ruin stürzen, wenn immer mehr Einkommensteuer-Einnahmen wegbrechen

Eine weitere Konsequenz ist, dass das Offshoring von Jobs einfacher wird, sobald eine Organisation wirklich remote-first ist. Wenn ich 2 Entwickler in Bangalore einstelle, einen Data Scientist in Hyderabad und einen Produktmanager in Kiev und versuche sie in eine Softwareentwicklungsabteilung mit 200 Mitarbeitern in Berlin zu integrieren, wird das vermutlich schief gehen. Wenn meine 200 Programmierer aber alle aus dem Homeoffice arbeiten, also alle Tools und Prozesse bereits für Remote-Arbeit optimiert sind, gibt es viel weniger Herausforderungen.